Die Digitalisierung ist nur eine von drei Zukunftssäulen
Experten-Talk mit Paul Martin
„Die Digitalisierung ist nur eine von drei Zukunftssäulen“
Wer glaubt, junge Unternehmer haben keine Erfahrung oder Kompetenzen, irrt gewaltig. Dieses Mal habe ich mich mit Paul Martin, Gründer der Digitalberatung Etvide, unterhalten. Paul und sein Geschäftspartner, Christopher Giuliani sind sehr junge Unternehmer, die schon einen stolzen Kundenstamm vorweisen können – und die mittelständische Unternehmerlandschaft digitaler machen.
Ein Gespräch über Marke, Kultur, Plattformen und Ökosysteme.
Paul, bitte stell deine Firma einmal kurz vor.
Unser Unternehmen ist mit der Corona-Krise (auf-)gewachsen. Mein Geschäftspartner und ich haben Etvide vor zwei Jahren gegründet, als Anknüpfung unserer vorherigen Tätigkeit in einem gemeinsamen Startup, das die Krise nicht überlebte.
Aber viele Kunden aus dem Mittelstand haben uns weiterhin nach Unterstützung zu bestimmten Themen gebeten – und so haben wir uns als umsetzendes Beratungsunternehmen auf die drei Kernsäulen Strategie, Softwareentwicklung und Markenführung spezialisiert. Für uns gehen diese Säulen immer Hand in Hand.
Digitalisierung funktioniert nur, wenn alle drei Themen im gesamtheitlichen Kontext betrachtet werden, was viele Unternehmen hierzulande missverstehen.
Wir stellen aber immer wieder fest: Diese drei Bereiche müssen sich gleichmäßig weiterentwickeln, um für Unternehmen wirksam und nachhaltig zu sein. Vor allem der deutsche Mittelstand benötigt Unterstützung bei der digitalen Weiterentwicklung.
Von Mitarbeiterkompetenzen bis hin zu Wachstumsinitiativen muss ein größeres Verständnis gegenüber Digitalisierung aufgebaut werden. Und genau hierbei begleiten wir unsere Kunden, indem wir einen ganzheitlichen Blick auf das Thema werfen, Potenziale identifizieren und freisetzen.
Ihr bietet ja eine Menge an. Gibt es einen Bereich, den du als euer Kerngeschäft bezeichnen würdest?
Damit haben wir uns vor kurzen tatsächlich etwas intensiver beschäftigt. Und was wir gemerkt haben: Der Kernbereich besteht wirklich aus diesen drei Säulen.
Wir haben Kunden immer aus einer der drei Säulen gewonnen: Strategie, Softwareentwicklung oder Markenführung. Und jedes Mal haben die Kunden gemerkt, dass sich mit einer Säule auch die anderen beiden Bereiche mitentwickeln müssen. Unser Kerngeschäft besteht darin die gesamtheitliche Perspektive zwischen den Bereichen einzubringen und auf der Grundlage gemeinsam Konzepte mit den Kunden zu erarbeiten.
Das halte ich für sinnvoll. Wenn ein Mandant zu mir sagt, er wolle sich digitalisieren, dann frage ich ja auch: Wohin wollen Sie damit? Das Ziel muss klar sein.
Eine Strategie muss definiert sein.
Und der Weg zum Ziel geht oft mit einem Strukturwandel einher – und Strukturwandel geht wiederum nur mit Kulturwandel. Ihr seid junge Unternehmer – ist das Alter manchmal eine Hürde, um solch große Themen mit Kunden zu besprechen?
Wenn es um kulturelle oder strukturelle Themen geht, holen wir uns Partner mit an Bord, wie dich, Ulvi. Wir gehen aber auch selbst in die Abteilungen rein und sprechen mit den Menschen, um das Mindset im Unternehmen zu erfassen. Hier stellt sich dann heraus, ob eine kultureller Change-Prozess nötig ist oder nicht. Im Bereich der Digitalisierung werden wir aber trotz – oder gerade wegen – unseres Alters sehr ernst genommen.
Ein gutes Beispiel ist ein Kunde aus der Mobilitätsbranche. Das Unternehmen fokussiert sich auf ein gesamtheitliches Angebot für die verbrennerfreie Mobilität und fragte uns, ob wir einen Konfigurator für sie bauen können, der die beste Wallbox für Kunden findet. Schnell wurde offensichtlich: Weder die bisherige Ausrichtung in der Markenführung noch die digitale Infrastruktur bildeten eine Grundlage für eine solche Digitalstrategie - Direkt hatten wir zu den Punkten eine Diskussionsgrundlage.
Ich glaube, was uns jungen Menschen definitiv zugetraut wird, ist Digitalkompetenz. Hinzu kommt: Je mehr Referenzen wir vorzeigen können, desto mehr wird unser junges Alter zum Vorteil. Agiles Vorgehen, Kreativität, Out-of-the-Box-Denken: All diese positiven Assoziationen verbinden Kunden mit unserer Generation.
Gleichzeitig brauchen wir Kollaborationen wie mit dir, Ulvi, weil wir natürlich in bestimmten Bereichen Erfahrung benötigen – und weil das auch Teil unserer gesamtheitlichen Haltung ist. Du kannst in einer Gesellschafterrunde den Verantwortlichen direkt ins Gesicht sagen, was sie ändern müssen. Das können wir als Young Professionals in der Art wahrscheinlich nicht.
:devider:
Absolut. Gleichzeitig sehen 21-Jährige Dinge, die ich in meinem Alter nicht mehr sehe. Ihr seid holistisch unterwegs, während ich mit einem Tunnelblick in die Mandate gehe. Ich bin wie ein Jagdhund, der KPIs jagt. Mich interessieren nur die wichtigsten KPIs, darum werde ich geholt. Und hier komplementieren wir uns gut.
Auch könnte man sagen: Ich werde geholt, um das Unternehmen aus der Krise zu holen – ihr werdet geholt, um es nach der Krise wieder auf Zukunft auszurichten. Gibt es typische Fehlannahmen, die du im Erstgespräch mit Kunden immer wieder hörst?
Beim Thema Marke ist eine der größten Fehlannahmen: zu glauben, Marke sei nur die Oberfläche, nur das klar sichtbare. Das ist der größte Irrglaube. Starke Marken zeichnen sich dadurch aus, dass die Touch Points, das Produktportfolio und die Kultur und eines Unternehmens auf eine Botschaft ausgerichtet sind. Der Effekt: Die Markenwerte werden für die Kunden erlebbar und es entsteht eine Beziehung. Zufriedene Kunden sind nach wie vor deine beste Werbung.
Das sehe ich ähnlich. Du musst eine Marke sein wollen. Bist du keine Marke, entscheidet der Preis über deine Zukunft. Unternehmen müssen Marke leben. Das ist keine Frage des Geldes oder der Technik, sondern eine Frage der Haltung. Die physischen Eigenschaften des Produkts sind nur 5 Prozent davon. Marke ist eines der wichtigsten Assets.
Unternehmen sollten sich überlegen: Wie können wir Nutzen schaffen, der Relevanz erzeugt aber auch so differenziert ist, dass sich Menschen mit der Marke interagieren möchten und eine Bindung zum Unternehmen aufbauen wollen?
Auch hier ist die gesamtheitliche Perspektive wieder entscheidend. Wir haben mal einen Kunden zu den Themen Strategie, Softwareentwicklung und Markenführung beraten. Der Kunde hat die zeitliche Priorisierung auf die Markenentwicklung gelegt. Da sich die drei Bereiche aber gegenseitig beeinflussen, kam es zu Herausforderungen.
:devider:
Wie gut siehst du deutsche Unternehmen in der Digitalisierung aufgestellt – strategisch, systemisch und markentechnisch?
Digitalisierung ist für mittelständische Unternehmen vor allem deshalb eine Herausforderung, weil hierzulande einfach die Nachwuchskräfte fehlen.
Das ist ein Riesenthema. Junge Menschen haben einen anderen Blick auf die Digitalisierung. Aber entweder fehlen den Unternehmen diese Menschen oder sie können sich dort nicht zu Digitalisierungsthemen äußern. Positiv ist: In den letzten Jahren hat sich ein starkes Startup-Umfeld in Deutschland entwickelt. Allerdings geben wir das große Potenzial an die Amerikaner ab, weil wir Angst haben, zu investieren.
Und das ist eines der Hauptprobleme: Deutsche Investoren haben Angst, in Plattformen zu investieren. Plattformen sind für die Shareholder ein wunderbares Geschäftsmodell, wenn auch zu Beginn sehr teuer. Eine Plattform kann noch so hervorragend sein – ohne User ist sie nutzlos.
Was man jedoch verstehen muss: Mit den nötigen Ressourcen, dem richtigen Ansatz und etwas Risikobereitschaft (siehe Google+) erzeugen Plattformen ein hochlukratives Geschäftsmodell. Dann sprechen wir über den größten Mobilitätsanbieter der Welt, der jedoch keine Autos besitzt, den größten Anbieter von Unterkünften, der keine eigenen Unterkünfte besitzt o. ä.
Gerade B2B-Plattformen degradieren mittelständische Unternehmen in der Wertschöpfungskette. Ein B2B-Beispiel ist die Logistik.
Zwischen 2013 und 2019 ist das Investmentvolumen in der Transport- und Logistikbranche um 76 Prozent auf 26 Mrd. Dollar gestiegen. Etwa 25 Prozent dieser Investitionen gehen auf Softwareunternehmen und Plattformen – Zu den Shareholdern gehören unter anderem wieder Alibaba, Amazon Web Services, Google und Co.
Warum? Weil sie im großen Stil in Plattformen investieren. So werden Hersteller zu Lieferanten ohne direkten Kundenzugang. Ihre Marke verliert an Relevanz, weil die Plattform die wahrgenommene Marke ist. Und das ist ein Problem in Deutschland. Wir sind nicht schnell genug und nicht mutig genug. Das ist auch ein kulturelles Thema, keine Frage.
:devider:
Welche Rolle spielen Zusammenschlüsse zu Ökosystemen oder andere strategische Partnerschaften dabei?
Ich glaube, dass Partnerschaften sehr relevant sind für den Mittelstand. Denn es stimmt: die Unternehmen in Deutschland haben nicht dasselbe Investmentvolumen, haben nicht die Leute und haben auch nicht die Daten, die beispielsweise Google hat. Google besitzt andere Dimensionen an Datenschätzen als ein mitteständischer Logistiker.
Hier erhalten strategische Partnerschaften eine hohe Relevanz. So lassen sich gemeinsam mit Mitbewerbern und branchennahen Akteuren Plattformen aufbauen, die einen konkreten Mehrwert bieten können.
Für die Logistik-Branche haben wir einmal ein Konzept dazu entwickelt. Wir haben uns die Frage gestellt: Was würde passieren, wenn sich die großen mittelständischen Logistiker in Deutschland, in der D-A-CH-Region oder sogar in ganz Europa zusammenschließen und Daten zusammenlegen würden? Was würde das bitte für einen enormen Mehrwert bieten? Und was für einen Wert würde das für potenzielle Investoren darstellen?
Momentan fließen Daten deutscher Mittelständler ab – und andere Unternehmen entwickeln innovative Geschäftsmodelle. Wir müssen darin besser werden, diese Daten selbst zu nutzen. Und mit Partnerschaften lassen sich Ressourcen, Daten und Investments bündeln.