Wer kauft heute noch Suppenschüsseln?

January
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2022
2022
Ulvi AYDIN
Wer kauft heute noch Suppenschüsseln?Die zweitälteste Porzellanmanufaktur Deutschlands im Wandel der ZeitDa ich selbst berufliche Wurzeln im Porzellan-Business habe, freue ich mich ganz besonders, André Neiß für meinen Experten-Talk gewonnen zu haben. Neiß ist seit Februar 2021 Geschäftsführer der Porzellanmanufaktur FÜRSTENBERG. Das Unternehmen gehört zu 98 Prozent dem Land Niedersachsen, 2 Prozent werden vom Landkreis Holzminden gehalten. Heute spricht man gerne von „Herausforderungen“, denen man sich stellt. Bei Neiß ist es konkret die Begeisterung für die Menschen, die in Fürstenberg arbeiten und die potenzielle Kundschaft, die es für ein einzigartiges Produkt in höchster Qualität zu gewinnen gilt. Und am Ende muss daraus etwas entstehen, was in wirtschaftlichem Erfolg mündet. Dieser Herausforderung will sich Neiß stellen und das Traditionsunternehmen, das 2022 sein 275-jähriges Jubiläum begeht, in eine nachhaltige Zukunft führen. Ein Gespräch über Porzellan-Handwerk als Kulturerbe, neue Vertriebswege, glanzvolle Kooperationen – und die Challenge, Geschäftsführer in einem defizitären öffentlichen Unternehmen zu sein. Lieber Her Neiß, einige Worte zu Ihnen und über Sie:Ich habe an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg studiert und bin anschließend in die Wirtschaftsprüfung gegangen. 1988 bin ich dann nach Berlin gewechselt und habe für ein Pharmaunternehmen gearbeitet. Den Mauerfall ein Jahr später habe ich noch gut in Erinnerung: Wir hatten gerade Besuch aus den USA. Plötzlich reißt jemand die Tür zum Büroflur auf und schreit: „Die sitzen auf der Mauer und saufen Sekt“. Dieser Satz hat sich eingebrannt. Dann gab es auch kein Halten mehr, wir sind mit den Amerikanern direkt zur Mauer gefahren. Das war eine schöne Zeit in Berlin. Später war ich auch für ein produzierendes Textilunternehmen tätig, das aber im Strudel der Wiedervereinigung und der damit verbundenen strukturellen Veränderungen insolvent gegangen ist. Wie ging es weiter?Ich wurde von einem Headhunter gefragt, ob ich mir vorstellen könne, für die Berliner Verkehrsbetriebe zu arbeiten. Das fand ich anfangs völlig abwegig, doch dann bin ich dort auf einen sehr charismatischen Vorstandsvorsitzenden gestoßen, der mich überzeugt hat. Also habe ich 7 Jahre für die BVG gearbeitet. Das war mein Einstieg in den Public Transport Sektor. Nach weiteren Stationen als Gesellschafter eines auf urbane Mobilität spezialisierten Beratungsunternehmens wurde ich letztlich Vorstandsvorsitzender der ÜSTRA in Hannover. Nach dem Ausscheiden dort, habe ich es mit der Frührente versucht – und schnell gemerkt, dass ich weiterarbeiten möchte. Also bin ich Interim Manager geworden. Ende Februar 2021 habe ich ein Mandat bei der Porzellanmanufaktur FÜRSTENBERG zur Übernahme der Geschäftsführung erhalten. Daraus ist dann recht schnell der Wunsch nach einer dauerhaften Zusammenarbeit gewachsen, sodass ich seit Oktober als fester Geschäftsführer für FÜRSTENBERG arbeite. Unsere Lebensläufe weisen ein paar interessante Parallelen auf: Wir sind ähnlich alt, wir haben beide das Interim-Manager-Gen und wir haben einen Porzellan-Background: Ich habe für die Königliche Porzellanmanufaktur Berlin gearbeitet, war vor knapp 30 Jahren mal Vertriebsleiter bei FÜRSTENBERG – und war auch als Interim Manager für die Porzellan-Einzelhandelsseite tätig. Wie fühlt sich das für Sie an, nach der Interim-Zeit wieder in einem „festen Sattel“ zu sitzen? Es ist etwas anderes, fester Geschäftsführer zu sein, als ad interim. Man wird anders wahrgenommen. Der größte Unterschied liegt in der zeitlichen Perspektive: Wenn ich als Interim Manager Maßnahmen anstoße, die zeitlich über mein Mandat hinausgehen, nehmen die Mitarbeiter das anders auf. Der unausgesprochene Tenor ist dann: „Wenn der weg ist, schlägt der neue Geschäftsführer bestimmt eine andere Richtung ein“. Also wird man irgendwann bei weitreichenden Entscheidungen latent in Frage gestellt. Das kann ich auch nachvollziehen. Der Wechsel in die feste Geschäftsführung hat dann einen Akzeptanzschub ausgelöst. Die Menschen im Unternehmen vertrauen mir – aber sie wollen, dass ich hinter meinen Maßnahmen stehe und sie auch ausbade, falls etwas daneben geht. Mit dieser Haltung sympathisiere ich und kann sehr gut mit ihr umgehen. Als ich in der Betriebsversammlung den Wechsel hin zum festen Geschäftsführer bekannt gab, gab es spontanen Applaus, was ein besonderer Gänsehautmoment für mich war. Sie haben Erfahrung in privatwirtschaftlichen und in öffentlichen Unternehmen: Wie stark unterscheidet sich die Arbeit hier?Das Thema (Public) Governance ist wesentlich strenger. Das Land hat gewisse Regeln, an die wir uns zu halten haben. Das muss jeder Geschäftsführer verinnerlichen. Oftmals haben Unternehmen der öffentlichen Hand leichteren Zugang zu Krediten. Das ist bei uns aber nicht der Fall. Wir sind in der komfortablen Situation, dass über einenErgebnisabführungsvertrag die Liquidität des Unternehmens sichergestellt ist. Das entbindet uns jedoch nicht davon, die ehrgeizigen wirtschaftlichen Zielsetzungen für die Zukunft anzugehen und umzusetzen. Wie war die Lage im Unternehmen, als Sie bei FÜRSTENBERG anfingen?Fürstenberg hat kürzlich einen Gesellschafterwechsel vollzogen: Das vorherige Gesellschafterunternehmen, die NORD/LB, hatte selbst einen Sanierungsweg zu gehen und hat im Zuge dessen ihr Beteiligungsportfolio auf den Prüfstand gestellt. Da passte eine Porzellanmanufaktur nicht mehr hinein. Also hat die NORD/LB das Land Niedersachsen um Entlastung gebeten. Sie konnte mit dem defizitären Hersteller FÜRSTENBERG keinen nachhaltigen Turnaround erzielen. Seitdem hält das Land Niedersachsen mittelbar 98 Prozent an der Porzellanmanufaktur, die 2 Prozent sind unverändert beim Landkreis Holzminden verblieben. Seit dem Gesellschafterwechsel weht ein neuer Wind im Unternehmen, was positiv für die Geschäftsführung und die Verantwortlichen hier ist. FÜRSTENBERG ist ein Kulturgut, das es zu bewahren gilt. Können Sie uns kurz durch die Geschichte der Porzellanmanufaktur führen?Wo fängt man da an? Die Geschichte der Manufaktur ist untrennbar mit Herzog Carl I. von Braunschweig-Wolfenbüttel verbunden. Sehr weitsichtig hat er im Braunschweigischen Land Manufakturen gegründet. Das Unternehmen wurde im früheren Jagdschloss Fürstenberg angesiedelt, das schon im 13. Jahrhundert existierte – also weit vor der Gründung der Manufaktur im Jahr 1747. Wer in die Geschichte blickt, erkennt die Weitsicht des Manufakturgründers Herzog Carl I.: Er gründete an einer Stelle, wo nicht jeder hinkommt. Das hatte schon damals aus wirtschaftlicher Sicht den Vorteil, dass Arbeitsplätze in einer – heute würde man sagen – strukturschwachen Region geschaffen wurden. Aus damaliger Sicht konnte der Herzog durch die Abgeschiedenheit auch leichter das Geheimnis des Porzellans hüten: Wettbewerber kamen nicht so schnell hierher, um die Kunst auszuforschen und kopieren zu können. Ein dritter Grund: Am Fürstenberg, was von „Forst“ und nicht von „Fürst“ kommt, gab es genug Holz als Brennstoff und das Kaolin kam aus dem Solling. Manufakturen mit so einer Historie müssen Kulturerbe sein!Dennoch ist unsere klare Aufgabe, die Verluste zu verringern. Darum bin ich hier. Wir wollen das Unternehmen sanieren und auf einen wirtschaftlich gesunden Weg führen.Ja, die Trinität eines öffentlichen Gesellschaftermandats ist nicht nur umsatzgetrieben. Ich würde das wie folgt erklären. Es geht darum, das Manufakturerbe zu wahren und weiterzuentwickeln, eine Botschafterfunktion für die Region wahrzunehmen. Das Niederachsenross wird beispielsweise in Fürstenberg hergestellt. Und es geht darum, eine vernünftige kleine Rendite anzustreben, ohne in Übermaß reich zu werden. Das ist quasi ein gegenläufiger Ansatz zum oftmals kritisierten Shareholder Value.Ja, das beschreibt es ganz gut. Für dieses besondere Unternehmen ist ein „08/15-Kurs“ von Kapazitäten runter, Mitarbeiter abbauen und Bestände verkaufen nicht das Richtige. Das funktioniert in meinen Augen nicht, weil gute Leute dann abspringen, das Unternehmen verlassen und später auch nicht wiederkommen. Wir werden in das Thema Marketing investieren und neue Wege gehen, um neue Kundengruppen zu erschließen. Der Aufsichtsrat unterstützt diesen Kurs des rentablen Wachstums, der differenzierten Kundenansprache unter Einsatz moderner Vertriebskanäle. Wir müssen ein deutliches Umsatzwachstum hinlegen. Das gefällt mir! Entweder, wir machen es my way oder ihr macht es ohne mich. Das ist der Vorteil als erfahrene Führungspersönlichkeit: Man kann den Gesellschaftern auch unangenehme Wahrheiten sagen. Es gibt alte Fallschirmspringer und junge Fallschirmspringer. Es gibt vorsichtige Fallschirmspringer und unvorsichtige. Aber: Es gibt keine alten und unvorsichtigen Fallschirmspringer. Aber kommen wir zum Marktauftritt: Was wollen Sie in Zukunft verändern?Ich glaube, das Unternehmen hat sich früher zu sehr auf die Attribute „Tradition und Historie“ konzentriert. Das sind auch starke Markenwerte, an denen ich ebenfalls festhalten möchte. Aber: Wir haben wesentlich mehr zu bieten als Tradition. Und das müssen wir ansprechen, und zwar auf eine Art und Weise, die nicht so selbstfokussiert ist. Wir wollen die Kunden in Fokus nehmen. In unserer Kooperation mit Sieger Design halten wir gemeinsam die Marke „Sieger by FÜRSTENBERG“. Arbeitsteilig ist Sieger Design zuständig für Marketing und Design, während wir Produktion und Vertrieb verantworten. Wir produzieren die außergewöhnlichen neuartigen Designentwürfe, und Sieger Design spricht sehr erfolgreich mit seinem Marketing die Kundenwünsche an. Mit den reinen FÜRSTENBERG Produkten wollen wir nun einen direkteren und besseren Kundenzugang finden. Mit wem arbeitet FÜRSTENBERG sonst noch zusammen?Momentan arbeiten wir an einem anspruchsvollen Projekt mit dem Architekturbüro Foster & Partners, die u.a. die Reichstagskuppel entworfen haben. Wir arbeiten an einer Form, deren Präzision und Technik alles in den Schatten stellt. Beispielsweise ein To-Go-Becher aus doppelwandigem Porzellan, um sich nicht die Hände zu verbrennen. Kurz für die Leser: Mit doppelwandigem Porzellan kann man jeden Hersteller in den Wahnsinn treiben. Porzellan wird gedreht oder gegossen. In diesem Prozess eine doppelwandige Tasse herzustellen, die auch noch filigran ist – das ist allerhöchstes Kunsthandwerk.Absolut. Und genau solche Geschichten möchten wir vermehrt erzählen. Nicht nur, wo unsere Produkte herkommen – sondern auch, mit wem und wie wir daran arbeiten, für eine moderne, kultivierte Käufergruppe ein positives Erlebnis zu kreieren. Bei Porzellan denken viele Menschen heute an Tischgedecke inklusive Suppenschüssel. Suppenschüsseln kaufen nur noch wenige! Neben dem To-Go-Becher haben wir mit Foster & Partners auch eine French-Press-Kaffeekanne aus Porzellan hergestellt. Die Fertigung einer French Press aus Porzellan ist fast unmöglich, weil man einen exakt gleichförmigen Zylinder herstellen muss. Das Ergebnis ist ein anschauliches, charmantes Produkt, mit dem wir die Kaffeekultur ansprechen: Endkunden, aber auch Restaurants, Kaffees und Hotels. Ja, die Story konsequent zu erzählen, ist wichtig für einen soliden Marktauftritt. Die physischen Eigenschaften eines Produkts sind bei weitem nicht mehr so wichtig wie die emotionalen Eigenschaften, die Soft Facts. Also in Ihrem Fall: Kunst, Kultur, Lifestyle. Ganz genau. Wer sind Ihre Kundengruppen und welche Vertriebswege nutzen Sie?Im B2B-Geschäft ist der Facheinzelhandel ein wichtiger Vertriebspartner und Multiplikator für uns. Allerdings müssen wir auch hier effizienter werden. Die Zukunft des stationären Einzelhandels ist ungewiss. Bisher beliefern wir um die 140 Facheinzelhändler in Deutschland. Aber hier gilt, wie so oft, das Pareto-Prinzip: einige wenige Händler machen 80 Prozent des Umsatzes in diesem Bereich. Hier werden wir künftig eine effizientere Form der Zusammenarbeit finden: Einzelhändler, die nicht ganz so umsatzstark sind, haben die Möglichkeit, online zu ordern und wir halten uns mit Besuchen zurück. Mit den Key-Accounts werden wir weiterhin im engen Kontakt stehen und das direkte Gespräch suchen. Wichtig sind uns auch Händler, die für uns als Flagship-Store fungieren. Beispiel KaDeWe, Berlin. Ein weiterer Zweig ist das nationale und internationale Projektgeschäft. Hier sind Hotels, Kreuzfahrtschiffe, Casinos oder Restaurants unsere Kunden. Das ist ein interessantes Geschäft, das allerdings viel Vorlaufzeit und einen langen Atem benötigt. Denn: Im Projektgeschäft kommt das Porzellan zum Schluss – dann ist oftmals das Budget schon dünner. Hier ist die Herausforderung, möglichst früh bei der Planung einzusteigen. Dafür muss man gut vernetzt sein und den Mut haben, proaktiv an potenzielle Partner heranzutreten.Für das direkte B2C-Geschäft bauen wir unsere Onlinepräsenz momentan stärker aus. Wir verbessern das Online-Shopping-Erlebnis für unsere Kunden, verbinden die unterschiedlichen Kanäle im Omnichannel – und suchen für Social Media Influencer, die zu unser Marke passen.Nicht vergessen möchte ich bei der Betrachtung unserer Vertriebskanäle den Manufaktur Werksverkauf. Die Kunden finden hier in Fürstenberg das weltweit größte Fachgeschäft für FÜRSTENBERG Porzellan, das einzige mit der kompletten FÜRSTENBERG und Sieger by FÜRSTENBERG Kollektion. Was ist mit Fachmessen?Messen sind ein sehr wichtiger Weg der Vernetzung, B2B-Kundenpflege und Neukundengewinnung. Leider hat die Pandemie uns hier in letzter Zeit einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wir setzen nun auf die MAISON&OBJETin Paris. Wir haben richtig Lust, uns mal wieder auf einer Messe mit anderen Menschen zu treffen und unsere Neuheiten zu zeigen. Lieber Herr Neiß, ich wünsche Ihnen und Ihrem Unternehmen viel Erfolg! 
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Wer kauft heute noch Suppenschüsseln?
Die zweitälteste Porzellanmanufaktur Deutschlands im Wandel der Zeit

Da ich selbst berufliche Wurzeln im Porzellan-Business habe, freue ich mich ganz besonders, André Neiß für meinen Experten-Talk gewonnen zu haben. André Neiß ist seit Februar 2021 Geschäftsführer der Porzellanmanufaktur FÜRSTENBERG. Das Unternehmen gehört zu 98 Prozent dem Land Niedersachsen, 2 Prozent werden vom Landkreis Holzminden gehalten. Heute spricht man gerne von „Herausforderungen“, denen man sich stellt.

Bei A.Neiß ist es konkret die Begeisterung für die Menschen, die in Fürstenberg arbeiten und die potenzielle Kundschaft, die es für ein einzigartiges Produkt in höchster Qualität zu gewinnen gilt. Und am Ende muss daraus etwas entstehen, was in wirtschaftlichem Erfolg mündet. Dieser Herausforderung will sich André Neiß stellen und das Traditionsunternehmen, das 2022 sein 275-jähriges Jubiläum begeht, in eine nachhaltige Zukunft führen.

Ein Gespräch über Porzellan-Handwerk als Kulturerbe, neue Vertriebswege, glanzvolle Kooperationen – und die Challenge, Geschäftsführer in einem defizitären öffentlichen Unternehmen zu sein.  

Lieber Her Neiß, einige Worte zu Ihnen und über Sie:

Ich habe an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg studiert und bin anschließend in die Wirtschaftsprüfung gegangen. 1988 bin ich dann nach Berlin gewechselt und habe für ein Pharmaunternehmen gearbeitet. Den Mauerfall ein Jahr später habe ich noch gut in Erinnerung: Wir hatten gerade Besuch aus den USA.

Plötzlich reißt jemand die Tür zum Büroflur auf und schreit: „Die sitzen auf der Mauer und saufen Sekt“. Dieser Satz hat sich eingebrannt. Dann gab es auch kein Halten mehr, wir sind mit den Amerikanern direkt zur Mauer gefahren. Das war eine schöne Zeit in Berlin.

Später war ich auch für ein produzierendes Textilunternehmen tätig, das aber im Strudel der Wiedervereinigung und der damit verbundenen strukturellen Veränderungen insolvent gegangen ist.

Wie ging es weiter?

Ich wurde von einem Headhunter gefragt, ob ich mir vorstellen könne, für die Berliner Verkehrsbetriebe zu arbeiten. Das fand ich anfangs völlig abwegig, doch dann bin ich dort auf einen sehr charismatischen Vorstandsvorsitzenden gestoßen, der mich überzeugt hat. Also habe ich 7 Jahre für die BVG gearbeitet. Das war mein Einstieg in den Public Transport Sektor. Nach weiteren Stationen als Gesellschafter eines auf urbane Mobilität spezialisierten Beratungsunternehmens wurde ich letztlich Vorstandsvorsitzender der ÜSTRA in Hannover.

Nach dem Ausscheiden dort, habe ich es mit der Frührente versucht – und schnell gemerkt, dass ich weiterarbeiten möchte. Also bin ich Interim Manager geworden. Ende Februar 2021 habe ich ein Mandat bei der Porzellanmanufaktur FÜRSTENBERG zur Übernahme der Geschäftsführung erhalten. Daraus ist dann recht schnell der Wunsch nach einer dauerhaften Zusammenarbeit gewachsen, sodass ich seit Oktober als fester Geschäftsführer für FÜRSTENBERG arbeite.

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Unsere Lebensläufe weisen ein paar interessante Parallelen auf: Wir sind ähnlich alt, wir haben beide das Interim-Manager-Gen und wir haben einen Porzellan-Background: Ich habe für die Königliche Porzellanmanufaktur Berlin gearbeitet, war vor knapp 30 Jahren mal Vertriebsleiter bei FÜRSTENBERG – und war auch als Interim Manager für die Porzellan-Einzelhandelsseite tätig. Wie fühlt sich das für Sie an, nach der Interim-Zeit wieder in einem „festen Sattel“ zu sitzen?

Es ist etwas anderes, fester Geschäftsführer zu sein, als ad interim. Man wird anders wahrgenommen. Der größte Unterschied liegt in der zeitlichen Perspektive: Wenn ich als Interim Manager Maßnahmen anstoße, die zeitlich über mein Mandat hinausgehen, nehmen die Mitarbeiter das anders auf.

Der unausgesprochene Tenor ist dann: „Wenn der weg ist, schlägt der neue Geschäftsführer bestimmt eine andere Richtung ein“. Also wird man irgendwann bei weitreichenden Entscheidungen latent in Frage gestellt. Das kann ich auch nachvollziehen. Der Wechsel in die feste Geschäftsführung hat dann einen Akzeptanzschub ausgelöst.

Die Menschen im Unternehmen vertrauen mir – aber sie wollen, dass ich hinter meinen Maßnahmen stehe und sie auch ausbade, falls etwas daneben geht. Mit dieser Haltung sympathisiere ich und kann sehr gut mit ihr umgehen. Als ich in der Betriebsversammlung den Wechsel hin zum festen Geschäftsführer bekannt gab, gab es spontanen Applaus, was ein besonderer Gänsehautmoment für mich war.

Sie haben Erfahrung in privatwirtschaftlichen und in öffentlichen Unternehmen: Wie stark unterscheidet sich die Arbeit hier?

Das Thema (Public) Governance ist wesentlich strenger. Das Land hat gewisse Regeln, an die wir uns zu halten haben. Das muss jeder Geschäftsführer verinnerlichen. Oftmals haben Unternehmen der öffentlichen Hand leichteren Zugang zu Krediten.

Das ist bei uns aber nicht der Fall. Wir sind in der komfortablen Situation, dass über einenErgebnisabführungsvertrag die Liquidität des Unternehmens sichergestellt ist. Das entbindet uns jedoch nicht davon, die ehrgeizigen wirtschaftlichen Zielsetzungen für die Zukunft anzugehen und umzusetzen.

Wie war die Lage im Unternehmen, als Sie bei FÜRSTENBERG anfingen?

Fürstenberg hat kürzlich einen Gesellschafterwechsel vollzogen: Das vorherige Gesellschafterunternehmen, die NORD/LB, hatte selbst einen Sanierungsweg zu gehen und hat im Zuge dessen ihr Beteiligungsportfolio auf den Prüfstand gestellt. Da passte eine Porzellanmanufaktur nicht mehr hinein. Also hat die NORD/LB das Land Niedersachsen um Entlastung gebeten.

Sie konnte mit dem defizitären Hersteller FÜRSTENBERG keinen nachhaltigen Turnaround erzielen. Seitdem hält das Land Niedersachsen mittelbar 98 Prozent an der Porzellanmanufaktur, die 2 Prozent sind unverändert beim Landkreis Holzminden verblieben.

Seit dem Gesellschafterwechsel weht ein neuer Wind im Unternehmen, was positiv für die Geschäftsführung und die Verantwortlichen hier ist.

FÜRSTENBERG ist ein Kulturgut, das es zu bewahren gilt. Können Sie uns kurz durch die Geschichte der Porzellanmanufaktur führen?

Wo fängt man da an? Die Geschichte der Manufaktur ist untrennbar mit Herzog Carl I. von Braunschweig-Wolfenbüttel verbunden. Sehr weitsichtig hat er im Braunschweigischen Land Manufakturen gegründet. Das Unternehmen wurde im früheren Jagdschloss Fürstenberg angesiedelt, das schon im 13. Jahrhundert existierte – also weit vor der Gründung der Manufaktur im Jahr 1747.  

Wer in die Geschichte blickt, erkennt die Weitsicht des Manufakturgründers Herzog Carl I.: Er gründete an einer Stelle, wo nicht jeder hinkommt. Das hatte schon damals aus wirtschaftlicher Sicht den Vorteil, dass Arbeitsplätze in einer – heute würde man sagen – strukturschwachen Region geschaffen wurden.

Aus damaliger Sicht konnte der Herzog durch die Abgeschiedenheit auch leichter das Geheimnis des Porzellans hüten: Wettbewerber kamen nicht so schnell hierher, um die Kunst auszuforschen und kopieren zu können. Ein dritter Grund: Am Fürstenberg, was von „Forst“ und nicht von „Fürst“ kommt, gab es genug Holz als Brennstoff und das Kaolin kam aus dem Solling.

Manufakturen mit so einer Historie müssen Kulturerbe sein!

Dennoch ist unsere klare Aufgabe, die Verluste zu verringern. Darum bin ich hier. Wir wollen das Unternehmen sanieren und auf einen wirtschaftlich gesunden Weg führen.

Ja, die Trinität eines öffentlichen Gesellschaftermandats ist nicht nur umsatzgetrieben. Ich würde das wie folgt erklären. Es geht darum, das Manufakturerbe zu wahren und weiterzuentwickeln, eine Botschafterfunktion für die Region wahrzunehmen. Das Niederachsenross wird beispielsweise in Fürstenberg hergestellt. Und es geht darum, eine vernünftige kleine Rendite anzustreben, ohne in Übermaß reich zu werden. Das ist quasi ein gegenläufiger Ansatz zum oftmals kritisierten Shareholder Value.

Ja, das beschreibt es ganz gut. Für dieses besondere Unternehmen ist ein „08/15-Kurs“ von Kapazitäten runter, Mitarbeiter abbauen und Bestände verkaufen nicht das Richtige. Das funktioniert in meinen Augen nicht, weil gute Leute dann abspringen, das Unternehmen verlassen und später auch nicht wiederkommen.

Wir werden in das Thema Marketing investieren und neue Wege gehen, um neue Kundengruppen zu erschließen.

Der Aufsichtsrat unterstützt diesen Kurs des rentablen Wachstums, der differenzierten Kundenansprache unter Einsatz moderner Vertriebskanäle. Wir müssen ein deutliches Umsatzwachstum hinlegen.

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Das gefällt mir! Entweder, wir machen es my way oder ihr macht es ohne mich. Das ist der Vorteil als erfahrene Führungspersönlichkeit: Man kann den Gesellschaftern auch unangenehme Wahrheiten sagen. Es gibt alte Fallschirmspringer und junge Fallschirmspringer. Es gibt vorsichtige Fallschirmspringer und unvorsichtige. Aber: Es gibt keine alten und unvorsichtigen Fallschirmspringer. Aber kommen wir zum Marktauftritt: Was wollen Sie in Zukunft verändern?

Ich glaube, das Unternehmen hat sich früher zu sehr auf die Attribute „Tradition und Historie“ konzentriert.

Das sind auch starke Markenwerte, an denen ich ebenfalls festhalten möchte. Aber: Wir haben wesentlich mehr zu bieten als Tradition. Und das müssen wir ansprechen, und zwar auf eine Art und Weise, die nicht so selbstfokussiert ist. Wir wollen die Kunden in Fokus nehmen.

In unserer Kooperation mit Sieger Design halten wir gemeinsam die Marke „Sieger by FÜRSTENBERG“. Arbeitsteilig ist Sieger Design zuständig für Marketing und Design, während wir Produktion und Vertrieb verantworten. Wir produzieren die außergewöhnlichen neuartigen Designentwürfe, und Sieger Design spricht sehr erfolgreich mit seinem Marketing die Kundenwünsche an. Mit den reinen FÜRSTENBERG Produkten wollen wir nun einen direkteren und besseren Kundenzugang finden.  

Mit wem arbeitet FÜRSTENBERG sonst noch zusammen?

Momentan arbeiten wir an einem anspruchsvollen Projekt mit dem Architekturbüro Foster & Partners, die u.a. die Reichstagskuppel entworfen haben. Wir arbeiten an einer Form, deren Präzision und Technik alles in den Schatten stellt. Beispielsweise ein To-Go-Becher aus doppelwandigem Porzellan, um sich nicht die Hände zu verbrennen.

Kurz für die Leser: Mit doppelwandigem Porzellan kann man jeden Hersteller in den Wahnsinn treiben. Porzellan wird gedreht oder gegossen. In diesem Prozess eine doppelwandige Tasse herzustellen, die auch noch filigran ist – das ist allerhöchstes Kunsthandwerk.

Absolut. Und genau solche Geschichten möchten wir vermehrt erzählen. Nicht nur, wo unsere Produkte herkommen – sondern auch, mit wem und wie wir daran arbeiten, für eine moderne, kultivierte Käufergruppe ein positives Erlebnis zu kreieren.

Bei Porzellan denken viele Menschen heute an Tischgedecke inklusive Suppenschüssel. Suppenschüsseln kaufen nur noch wenige! Neben dem To-Go-Becher haben wir mit Foster & Partners auch eine French-Press-Kaffeekanne aus Porzellan hergestellt.

Die Fertigung einer French Press aus Porzellan ist fast unmöglich, weil man einen exakt gleichförmigen Zylinder herstellen muss. Das Ergebnis ist ein anschauliches, charmantes Produkt, mit dem wir die Kaffeekultur ansprechen: Endkunden, aber auch Restaurants, Kaffees und Hotels.  

Ja, die Story konsequent zu erzählen, ist wichtig für einen soliden Marktauftritt. Die physischen Eigenschaften eines Produkts sind bei weitem nicht mehr so wichtig wie die emotionalen Eigenschaften, die Soft Facts. Also in Ihrem Fall: Kunst, Kultur, Lifestyle.

Ganz genau.

Wer sind Ihre Kundengruppen und welche Vertriebswege nutzen Sie?

Im B2B-Geschäft ist der Facheinzelhandel ein wichtiger Vertriebspartner und Multiplikator für uns. Allerdings müssen wir auch hier effizienter werden.

Die Zukunft des stationären Einzelhandels ist ungewiss. Bisher beliefern wir um die 140 Facheinzelhändler in Deutschland. Aber hier gilt, wie so oft, das Pareto-Prinzip: einige wenige Händler machen 80 Prozent des Umsatzes in diesem Bereich. Hier werden wir künftig eine effizientere Form der Zusammenarbeit finden: Einzelhändler, die nicht ganz so umsatzstark sind, haben die Möglichkeit, online zu ordern und wir halten uns mit Besuchen zurück. Mit den Key-Accounts werden wir weiterhin im engen Kontakt stehen und das direkte Gespräch suchen. Wichtig sind uns auch Händler, die für uns als Flagship-Store fungieren. Beispiel KaDeWe, Berlin.

Ein weiterer Zweig ist das nationale und internationale Projektgeschäft. Hier sind Hotels, Kreuzfahrtschiffe, Casinos oder Restaurants unsere Kunden. Das ist ein interessantes Geschäft, das allerdings viel Vorlaufzeit und einen langen Atem benötigt. Denn: Im Projektgeschäft kommt das Porzellan zum Schluss – dann ist oftmals das Budget schon dünner. Hier ist die Herausforderung, möglichst früh bei der Planung einzusteigen. Dafür muss man gut vernetzt sein und den Mut haben, proaktiv an potenzielle Partner heranzutreten.

Für das direkte B2C-Geschäft bauen wir unsere Onlinepräsenz momentan stärker aus. Wir verbessern das Online-Shopping-Erlebnis für unsere Kunden, verbinden die unterschiedlichen Kanäle im Omnichannel – und suchen für Social Media Influencer, die zu unser Marke passen.

Nicht vergessen möchte ich bei der Betrachtung unserer Vertriebskanäle den Manufaktur Werksverkauf. Die Kunden finden hier in Fürstenberg das weltweit größte Fachgeschäft für FÜRSTENBERG Porzellan, das einzige mit der kompletten FÜRSTENBERG und Sieger by FÜRSTENBERG Kollektion.

Was ist mit Fachmessen?

Messen sind ein sehr wichtiger Weg der Vernetzung, B2B-Kundenpflege und Neukundengewinnung. Leider hat die Pandemie uns hier in letzter Zeit einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wir setzen nun auf die MAISON&OBJETin Paris. Wir haben richtig Lust, uns mal wieder auf einer Messe mit anderen Menschen zu treffen und unsere Neuheiten zu zeigen.

Lieber Herr Neiß, ich wünsche Ihnen und Ihrem Unternehmen viel Erfolg!

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